Unten finden Sie einen Auszug aus Kiersten Fays übernatürlichem Liebesbuch “Im Besitz Des Dämonen” dem ersten Buch in ihrer verführerischen Shadow Quest-Reihe.
Urheberrechte © Kiersten Fay 2020
KAPITEL 1
Analia hockte im Schatten der Anlegebucht – erwartungsvoll und zitternd vor Angst – hinter einem großen Stapel Fracht versteckt. Adrenalin jagte wie wild durch ihre Adern. Feuchte, blonde Locken verfingen sich um ihr Gesicht, fielen auf ihre zerfetzte Kleidung und erbärmlich nackten Füße. Sie kämpfte darum, ihre Atmung zu beruhigen, aus Angst, dass sie jemand hören könnte. Ihr Körper drohte unter dem künstlichen Gewicht des Schiffes zusammenzubrechen, als langsam die Müdigkeit einsetzte.
Die Geräusche des Schiffes umfingen sie, als wäre es lebendig. Umarmten sie wie ein alter Freund und ein verhasster Feind.
Bald würde sie frei sein.
Hoffentlich.
Das war das einzige, was sie vorantrieb.
Sie hatte gewusst, dass heute ein Handelsschiff andocken würde. Alle paar Tage kamen hier zwei oder drei Transport-Raumschiffe an, um verschiedene Ladungen abzuliefern oder aufzuladen. Im Weltraum boten keine zwei Händler dieselben Waren an und somit wurden oft gleichzeitig mehrere Transportschiffe angefordert.
Sie beobachtete frustriert, wie der blonde Soldat nur wenige Schritte von ihr entfernt Wache hielt. Im Geiste wiederholte sie ihre zurückgelegten Schritte, in der Hoffnung, dass sie bei ihrer spontanen und ungeplanten Flucht keine Spuren hinterlassen hatte.
Wie immer, hatte sie wieder einmal eine ihrer Strafen abgesessen. Zwei Wochen lang eingeschlossen in einem Raum – ohne Nahrung und nur mit wenig Wasser – und mit noch einer weiteren Woche vor sich, auf die sie sich freuen durfte. Die Bestrafung war das Ergebnis ihrer Anstrengungen und ihres Versagens, die Annäherungsversuche von Darius abzuwehren.
Kapitän Darius der Extarga, anders bekannt als das Höllenschiff, war wegen ihres fortwährenden Widerstandes fuchsteufelswild geworden und hatte befohlen, dass man sie einsperrte, bis sie endlich ihr Los akzeptierte… ihn akzeptierte. Etwas, was sie niemals tun würde.
Sie würde niemals ihr Herz, ihren Körper oder ihre Seele an jemanden wie Darius verschwenden. Er war herzlos und brutal.
Während sie auf dem Boden ihrer Zelle gehockt hatte, war ein Mann hereingekommen. Sie hatte ihn schon vorher gesehen. Er hatte sich schon oft um sie gekümmert. Jedes Mal hatte sie versucht, mit ihm eine Konversation anzufangen, allerdings ohne Erfolg.
Dabei konnte sie es ihm nicht übelnehmen. Darius bemühte sich, sie auf der Extarga zu isolieren und sie von den meisten Mannschaftsmitgliedern fernzuhalten und zu verstecken. Diejenigen, die ihr begegnet waren – um ihr etwas zu Essen oder frische Kleidung zu bringen – waren angewiesen worden, nicht mit ihr zu sprechen, sonst würde man sie disziplinieren. Niemand würde dieses Risiko für eine Unterhaltung eingehen. Aber das hatte sie nicht davon abgehalten, es weiterhin zu versuchen.
„Wie ist dein Tag?“, würde sie die Person fragen, die in ihren Raum geschickt worden war. Es war eine Phrase, die sie zuvor gehört hatte, als sie verstohlen das Schiff beobachtet hatte. „Wie ist dein Name?“, würde sie fragen, voller Hoffnung auf eine Antwort.
Wenn man sie ignorierte, würde sie trotzdem mit der Konversation fortfahren, als ob sie sich miteinander unterhielten, anstatt nur einseitig zu sein, und sie würde ihnen irgendetwas erzählen, was auch immer ihr in den Kopf kam: Ihre Gedanken zu dem Raum, in dem sie sich gerade befand, oder wie sehr sie die Aussicht ins Weltall vermisste. Sie hatte es schon seit Jahrzehnten nicht mehr sehen dürfen.
Diese einseitigen Konversationen befriedigten sie etwas, wenn auch nur ein wenig. Es bedeutete ihr viel, wenn der ein oder andere für einen kurzen Augenblick innehielt, als ob man ihr zuhörte.
Doch in diesem Moment war sie nicht an Konversation interessiert, als sie die Essensreste betrachtete, die der Mann ihr gebracht hatte. Reste, die man nicht einmal einem Tier vorgesetzt hätte, aber sie waren gut genug für sie. Sie war vor lauter Hunger dünn geworden.
Obwohl der Mann nicht ein Wort gesprochen hatte, hatte er sie dabei beobachtet, wie sie die Essensreste verschlang. Es war eine Woche her, seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatte und es war nicht einmal genug gewesen, um satt zu werden. Sie hatte es kaum geschmeckt, was – so wie das Essen aussah – wohl einmal eine gute Mahlzeit gewesen war.
Sie hatte sich ihren Mund abgewischt und dann zu dem Mann hochgeschaut, überrascht, dass er immer noch dort war. Sie hatte etwas in seinem Gesichtsausdruck gesehen, was ihr nie zuvor aufgefallen war. War es Traurigkeit? Scham? Empfand er Mitleid mit ihr? Wahrscheinlich. Wer würde das nicht?
Sie hatte sich gefragt, wie sie wohl aussah, ungewaschen in ihrem zerfetzten Kleid. Mit bloßen Füßen, schmutzigen und abgebissenen Fingernägeln, und ihr Haar hatte schon seit längerer Zeit keine Bürste mehr gesehen.
Als sich der Mann abgewandte, um den Raum zu verlassen, war er nicht so gegangen, wie er das sonst immer getan hatte: indem er die Tür fest hinter sich zuzog und das Schloss zweimal nachprüfte. Stattdessen hatte er die Tür weit aufgezogen und sich eiligst zurückgezogen. Ohne zurückzublicken hatte er die schwere Tür von ganz allein durch ihr Eigengewicht zufallen lassen.
Analia wusste nicht, was sie dazu bewegt hatte in diesem Augenblick zu handeln. Sie hatte es einfach getan. Sie war vorwärts gesprungen und hatte ihre Finger zwischen die Tür und den Türrahmen geschoben, bevor sie ganz zufallen konnte. Und sie hatte einen Aufschrei unterdrücken müssen, als die schwere Tür daraufhin ihre Finger einquetschte.
Mit knirschenden Zähnen hatte sie dem Drang widerstanden, ihre Hand zurückzuziehen, und sie hatte gewartet.
Einen Herzschlag. Zwei. Drei. Ihre Atmung war angestrengt gewesen. Dann war der erste Schub Adrenalin durch ihren Körper geschossen, gefolgt von den ersten Funken einer Idee. Ihr Herz begann zu rasen, als sie an all die Möglichkeiten gedacht hatte.
Was sollte sie jetzt tun?
Dann hatte sie sich daran erinnert, dass einige Händler- und Transportschiffe in den nächsten Tagen andocken würden. Vielleicht…, wenn sie Glück hatte. Wenn sie es wenigstens bis zu den Anlegebuchten schaffen könnte. Wenn dort überhaupt ein Schiff angelegt hatte, dann würde es ihr vielleicht möglich sein der Extarga zu entkommen.
Das waren eine Menge ‚Wenns‘.
Sie hatte an die Konsequenzen gedacht, falls sie ihren Fluchtversuch durchziehen, aber scheitern würde. Ein ganzer Strom an fürchterlichen Bildern war in ihren Kopf eingedrungen. Sie würde tagelang oder sogar wochenlang leiden müssen, vielleicht sogar noch länger, wenn man sie erwischen sollte. Sie hatte sich noch nie zuvor so etwas Dreistes erlaubt, wie diesen Versuch zu fliehen.
Aber wenn sie es nicht zumindest versuchte, würde sie es für den Rest ihres Lebens bereuen, unabhängig von den Konsequenzen. Vielleicht würde sich ihr nie wieder eine solche Gelegenheit bieten.
Hoffnung war durch sie hindurchgeflossen und sie hatte sich leicht gefühlt. Die Idee, dass Freiheit und möglicherweise ein besseres Leben in greifbarer Nähe sein könnten, war ein berauschender Gedanke gewesen.
Was ist, wenn ich frei bin und es da draußen aber noch schlimmer ist?
Diese Überlegung hatte sich wie ein Gift in ihr ausgebreitet. Sollte sie entkommen und sich auf einem der Transportschiffe befinden … was wäre, wenn die Leute an Bord noch schlimmer waren als Darius?
Sie hatte diesen Gedanken aus ihrem Kopf verbannt. Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Oder nicht? Düstere Bilder schwirrten ihr im Kopf herum und hatten an ihrer Entschlossenheit genagt.
Oder was würde geschehen, wenn man von ihrer Gabe erfuhr? Vielleicht waren ihre ungewöhnlich spitzen Ohren ein klares Anzeichen dafür, was sie war, auch wenn es ihr selbst nicht bewusst war.
Vielleicht hätte sie unter anderen Umständen ihre Gabe besser akzeptiert, aber sie hatte deswegen schon zu lange leiden müssen und wünschte sich, dass es endlich verschwinden würde. Leider war das, soweit sie es wusste, unmöglich. Es war ein Teil von ihr, durch und durch, es steckte ihr im Blut und in den Knochen. Und es war der Grund, warum Darius sie so isoliert gefangen hielt, wie er das tat. Für ihn war sie nichts weiter als ein Objekt. Eine Maschine, die er benutzen konnte, wann immer er wollte.
Es konnte sein, dass ihre Gabe eine ganz normale Eigenschaft in ihrer Rasse war. Falls das so war, dann wäre dies das Einzige, was sie mit ihren Leuten verband. Sie hatte keine Ahnung, was sie war oder wo sie herkam. Keine Erinnerung an ihr eigenes Volk. Sie war noch ein Kind gewesen, als Darius sie als sein Eigentum beansprucht hatte.
Analia wusste, was sie hier auf dem Höllenschiff erwartete – ein ganzes Leben voller Leiden. Solange, bis Darius ihr in seinem Versuch sie zu brechen jeden Tropfen ihres Widerwillens abgezapft hatte. Schlussendlich würde er das irgendwann erreichen.
Als sie sich sicher gewesen war, dass der Gang leer war, traute sie sich einen Blick hinauszuwerfen. Dann hatte sie zu allen Göttern gebetet, dass sie ihr helfen mögen, und die Tür vorsichtig hinter sich zu fallen lassen, bis sie das leichte Klicken des Schlosses zuschnappen hörte. Jegliche Entscheidung, die sie getroffen hatte, wieder zurückzukehren, war in diesem Augenblick zerfallen.
Sie war durch die Korridore in Richtung Anlegebuchten geschlichen. Ihre nackten Füße hatten kaum ein Geräusch verursacht, während sie sich vorwärtsbewegte. Sie kannte dieses Schiff besser als alle anderen. Sie kannte es sogar besser als Darius selbst.
Als Darius sie an das Raumschiff angeschlossen hatte, war es Analia möglich gewesen, sich in das komplizierte Überwachungssystem an Bord einzuschleusen. Es war, als ob die Bilder der Kameras direkt in ihren Kopf übertragen worden waren und sie hatte alles auf einmal sehen können. Soweit sie es sehen konnte war das der einzige wirkliche Vorteil ihrer Gabe.
Allerdings war das nicht gerade ein fairer Tausch gewesen, wenn man die wahnsinnigen Schmerzen bedachte, an diesem Schiff angeschlossen zu sein. Das Gefühl, wie man ihr die Energie aus ihrem Körper abgesaugt und in das Stromspeichersystem des Schiffes eingespeist hatte, war eine unerträgliche Qual gewesen. Um sich davon abzulenken, hatte sie die Mannschaft via der Kameras beobachtet und sie um ihre Freiheit beneidet.
Das war ihre einzige Freude gewesen, doch jetzt war es ihr größter Feind.
Sie hatte sich zu einem kleinen Kontrollpanel geschlichen und dann beeilt, das System zu infiltrieren. Ihre Gabe würde ihr nun endlich einmal zu Gute kommen. Als sie sich selbst an das Schiff anschloss, hatte sie den Augenblick gespürt, als sie zu einem Teil davon wurde – eine gigantische Maschine, die wie eine Einheit zusammenarbeitete.
Analia schüttelte ihren Kopf und runzelte angewidert ihre Stirn. Sie war tatsächlich nur ein Teil der Gerätschaften.
Für sie war die gesamte Datenbank des Raumschiffes ein einziger Spielplatz. Jede Art von Information, jedes Geheimnis und jeder Code gehörten ihr. Falls Darius jemals erfahren sollte, wie weit ihre Fähigkeiten tatsächlich reichten, würde er sie sicherlich dafür missbrauchen, seiner Mannschaft hinterher zu spionieren. Es gab nur sehr wenige unter Darius Führung, die in privaten Konversationen gut über ihn sprachen.
Sobald sie das Schiff unter ihrem Kommando hatte, hatte sie sich zuerst ihren Weg zu den Andockstationen erleichtert, indem sie jede Tür aufgeschlossen hatte, die verriegelt sein könnte, und nachgeprüft, ob ihr irgendwelche Crew-Mitglieder im Weg gewesen waren. Nachdem sie sich einen direkten Pfad gesichert hatte, hatte sie noch zwei Wochen von solidem Überwachungsmaterial gelöscht. Dann hatte sie das System komplett heruntergefahren, es verriegelt und die Codes geändert, bevor sie sich weiter Richtung Anlegebucht vorwärts bewegt hatte.
Das System wurde nur alle paar Monate nachgecheckt und alles, was aufgezeichnet worden war, wurde nur im Falle einer Diskrepanz geprüft. Bis jemand auf die Idee kam, das Überwachungssystem zu checken, wäre sie längst verschwunden. Und wenn sie dann versuchen sollten, sich Zugang zu verschaffen, müssten sie mehr oder weniger in das System einbrechen, um Zugriff zu bekommen. Und weil sie das System war wusste sie auch, dass man sich daran sozusagen den Hals brechen würde.
Nur ein einziges Mal war sie während ihrer vorsichtigen Flucht durch all die verschiedenen Gänge und Korridore auf Probleme gestoßen, als sie auf ein paar Mannschaftsmitglieder traf, die ihr entgegenkamen. Sie hatte sie gehört, bevor sie sie sehen konnte. Sie waren selbstbewusst und laut gewesen, trampelnde Stiefel auf den harten glänzenden Böden und kurz davor, um die Ecke zu biegen, was sie wiederum in ihr Blickfeld gebracht hätte.
Angst hatte sie überwältigt und beinahe all ihre Sinne gelähmt. Doch nach einem kurzen Moment der Panik hatte sie es geschafft, ihre Emotionen ausreichend zu beruhigen, und war dann hinter einer Tür auf ihrer rechten Seite verschwunden.
Der Raum war klein und dunkel gewesen, wie ein Schrank, aber leer und unbenutzt. Sie hatte vor lauter Angst am ganzen Körper gebebt, wobei ihre Hände am schlimmsten gezittert hatten. Sie hatte sie mehrmals zu Fäusten geballt und wieder ausgestreckt und dann aneinander gerieben, um dieses Zittern unter Kontrolle zu bekommen.
Die Stimmen waren laut geworden, direkt vor ihrer Tür. Sie war zu einer Salzsäule erstarrt. Hatte ihren Atem angehalten. Erst als sich die Stimmen und Schritte wieder von ihr entfernt hatten, konnte sich ihr Körper entspannen.
Sie war erschöpft, so erschöpft.
Diese letzten paar Wochen ohne Nahrung hatten sie sehr geschwächt. Und sie hatte nicht besonders gut auf dem kalten Stahlboden geschlafen. Manchmal war sie nur eingeschlafen, weil die Erschöpfung sie schlussendlich einholte und stärker wurde als die Kälte in ihren Knochen.
Sie hatte sich wieder in den nun leeren Korridor begeben und war vorsichtig weitergegangen. Die Gänge waren still geblieben.
Auf dem Weg, den sie sich vorbereitet hatte, hatten sich die Türen jedes Mal geöffnet, wenn sie sich näherte. Mit jeder neuen Schwelle war ihre Panik neu entfacht. Jeder Gang war eine Wiederholung des ersten gewesen. Es gab nichts, was sie voneinander unterschied, nichts als graue Wände von schwachem Deckenlicht beleuchtet.
Ihre Nerven lagen blank, als sie die Anlegebuchten endlich erreicht hatte.
Tatsächlich war hier ein Händlerschiff angedockt, was beide Raumschiffe miteinander verband und gegenseitig öffnete. Sie hätte beinahe geschrien, als sie von einer ihr unbekannten Welle von Emotionen erfasst worden war.
Freude. Erleichterung. Gespannte Erwartung.
Jedenfalls, bis sie den Wächter entdeckt hatte, der ihr nun den Weg blockierte. Ein riesiger, stark aussehender Mann mit einem gelangweilten, düsteren Blick auf sein Gesicht gemeißelt. Igeliges blondes Haar umrahmte sein Gesicht und sein schwarzes kurzärmeliges Shirt entblößte kräftige Arme und eine muskulöse Brust. Seine untere Hälfte wurde von einer schwarzen Hose und schwarzen Stiefeln bedeckt. Jetzt lehnte er an der Wand des Schiffes, umgeben von einer gefährlichen Aura. Als könne er jemanden mit seinen bloßen Händen in der Luft zerreißen, ohne dabei seinen gelangweilten Blick abzusetzen.
Glücklicherweise hatte er sie nicht bemerkt. Sie hatte sich halb hinter einem großen Stapel Frachtgüter versteckt. Die Boxen waren so hochgestapelt, dass man gut einen Körper dahinter verstecken konnte, der drei Mal so groß war wie sie.
Sie musste sich ihre Nase festhalten, um ein Niesen zu unterdrücken, als sie einen Hauch von Gewürzen wahrnahm.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich bereits in ihrer halbversteckten Position befunden hatte, aber die Zeit drängte. Die Anlegebucht würde sich jede Minute mit Arbeitern füllen, die die Fracht in Empfang nehmen sollten. Sie konnte nur abwarten und auf eine Möglichkeit hoffen, auf den perfekten Augenblick, wenn niemand auf sie achtete und sie sich in dem Transportschiff verstecken konnte. Sie hoffte auf eine Ablenkung.
Die Docking-Station war ein riesiger Raum. Die Decke erstreckte sich hoch über ihnen und die Wände waren weiß. Drei Etagen lagen übereinander und rahmten den großen runden Raum ein. Massive Maschinen, die man zum Be- und Entladen der Fracht benutzte, waren an den dicken tragenden Wänden um sie herum festgebolzt und schwebten nun über ihr.
Derzeit befand sich kein Personal in ihnen.
Normalerweise wurden mit jeder Lieferung ein oder zwei Sklaven mitgebracht, doch diesmal sah sie keine. Darius kaufte gern Dinge, inklusive Menschen. Obwohl die meisten Mannschaftsmitglieder frei waren, waren einige von ihnen Sklaven und davon die meisten Frauen. Und obwohl sie genauso schlecht behandelt wurden, wie Analia, wurden sie nur sehr selten so isoliert gefangen gehalten.
Alle Crew-Mitglieder, Sklave oder nicht, hatten zwei Dinge gemeinsam. Erstens, Darius hatte sie sich alle selbst anhand ihrer großartigen Stärke, ihres Wissens oder ihrer Schönheit ausgesucht. Er erwartete immer, dass ihm in allem nur das Beste zur Verfügung stand. Zweitens, sie alle fürchteten den Kapitän.
Wenn er Analia nicht gerade für eine vermeintliche Widrigkeit bestrafte, hatte er sie oft dazu gezwungen zuzusehen, wenn er andere quälte. Wohl mit der Absicht, ihr damit so viel Angst einzujagen, dass sie sich ihm unterwerfen würde.
Es hatte funktioniert.
Er hatte sie einmal dazu gezwungen zuzuschauen, als eine Gruppe diszipliniert wurde. Einer der Männer war zum Tode verurteilt worden. Die anderen drei wurden dann dazu aufgefordert, ihn zu töten, sonst würden sie selbst sterben.
Analia hatte nie herausfinden können, was sie getan hatten, um solch eine Strafe zu verdienen. Man hatte ihnen keine Waffen überlassen, um die Tat auszuführen. Entsetzt hatte sie dann mitansehen müssen, wie die anderen den verurteilten Mann mit ihren Fäusten und Füßen zu Tode prügelten, um ihre eigenen Leben zu retten. Hätte sie weggeschaut oder ihre Augen geschlossen, dann hätte sie damit ihre eigene Bestrafung herbeigerufen.
Sie schüttelte diese Erinnerung ab. Dies war ihr erster wirklicher Fluchtversuch. Sie hatte unzählige Male zuvor darüber nachgedacht und davon geträumt, wie es sein würde, ihr Leben in ihren eigenen Händen zu halten. Das zu tun, was sie tun wollte und wann sie es tun wollte.
Oh, wie sehr sie sich nach Freiheit sehnte.
Ohne Angst vor den Konsequenzen denken, handeln und sprechen zu können. Niemand, der sie dazu zwang, ihre Fähigkeit zu benutzen, bis man ihrem Körper beinahe ihr gesamtes Lebenselixier abgezapft hatte und sie vor lauter Erschöpfung zusammenbrach. Niemand, der sich ihr aufzwingen würde, wenn sie keine Kraft mehr besaß, um sich gegen ihn zu wehren.
Sie schüttelte ihren Kopf.
Konzentriere dich.
Sie blinzelte von ihrem Versteck hervor. Der Wärter war immer noch dort und blockierte ihren Fluchtweg. Seit sie das letzte Mal einen kurzen Blick gewagt hatte, hatte er sich nicht von seiner Position bewegt. Sie hatte den Mann nie zuvor gesehen, was bedeutete, dass er ein Mitglied der Mannschaft des Händlerschiffs war und er nur eine einzige Aufgabe hatte: Leute wie sie davon abzuhalten, das Schiff unerlaubt zu betreten.
Ihr Plan war so einfach gewesen. Jedenfalls theoretisch. Sie hatte geplant, sich auf das Transportschiff zu schleichen, sich dort so lange zu verstecken, bis sie wieder irgendwo andockten, sich dann davonzuschleichen und für immer aus Dariuses Reichweite zu verschwinden. Klang doch ganz einfach, oder nicht?
Sie brauchte ganz einfach noch etwas mehr Glück. Nur ein wenig, damit sie auf dieses Schiff gelangen konnte, einen Schritt näher an ihre Freiheit heran. Sie hatte das verdammt nochmal verdient! Wie viel sollte sie noch erleiden müssen? Wie viel mehr würde sie ertragen können?
„Calic!“, rief eine männliche Stimme.
Analia zuckte bei dem Geräusch zusammen. Sie lugte hervor und sah, dass die Aufmerksamkeit des Wächters nun auf etwas im anderen Schiff gelenkt war.
„Was?“, fragte der blonde Wächter genervt.
„Die letzte Ladung steckt fest“, rief die andere Stimme. „Wir kriegen die nicht durch das Tor! Das passt nicht!“
„Es würde helfen, wenn du schlauer wärst als dieses Tor“, murmelte der blonde Wächter, bevor er zurückschrie: „Wir haben es doch auch irgendwie reingekriegt, oder nicht?!“ Er seufzte, bevor er im Inneren verschwand.
Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Sie wartete ein paar Sekunden ab und erwartete, dass er schnell wieder zurückkommen würde. Als das nicht geschah, atmete sie tief ein und bewegte sich vorwärts, zuerst zögerlich, aber dann rannte sie auf die Öffnung zu. Sie konnte nichts anderes hören als das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren und das schnelle Hämmern ihres wild schlagenden Herzens.
Näher. Näher.
Ihr stockte der Atem, als sie die Schwelle in das Transportschiff überquerte. Keine Anzeichen vom blonden Wächter.
Sie betrachtete ihre neue Umgebung. Dieser Raum war sehr viel kleiner als die Ladebucht hinter ihr, was ihr andeutete, dass dieses Frachtschiff ebenfalls sehr viel kleiner als die Extarga war.
Es gab zwei Durchgänge, einen direkt vor ihr und den anderen zu ihrer Rechten. Als sie eine Stimmer hinter dem Letzteren hörte, sprang sie auf den Durchgang direkt vor ihr zu.
Sie spähte zuerst hinein, bevor sie durch die Tür schlüpfte und in einem langen Gang landete. Die Luft hier war wärmer und ein weicher beigefarbener Teppich kitzelte unter ihren Füßen. Der Anblick der farbigen Wände schockierte sie. Ein Hauch von warmen Moccabraun wurde von dem sanften Deckenlicht sogar noch betont.
Sie ignorierte ihre Erschöpfung und den Hunger, die beide an ihr nagten, und ging schneller, da sich ihr scheinbar nirgendwo einen Unterschlupf anbot. Sie war vollkommen entblößt und wenn sie jetzt jemand entdecken würde, dann wäre alles verloren.
Nachdem sie, allein ihrem Instinkt folgend, durch einige leere Räume hindurchgegangen war, entdeckte sie eine offene Tür. Dahinter befand sich etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte.
Ungläubig zog es sie dorthin.
Der Raum war rund und an den Wänden entlang waren Computer aufgestellt. Ein zentrales freistehendes Bedienungspult befand sich nahe der hinteren Wand zu ihrer Linken. Ein massives Fenster nahm fast den halben Raum ein und enthüllte eine Aussicht, um die sie Darius kaltherzig beraubt hatte. Eine Ansicht, nach der sie sich so lange gesehnt hatte.
Sie wurde von Ehrfurcht überwältigt, als sie durch das Fenster hinausstarrte.
Das Weltall!
Schwarz. Tief. Weit. Besprenkelt mit winzigen Körnchen Licht – endlose Möglichkeiten versteckt in der Dunkelheit. Die Macht, die es enthielt, ließ sie regelrecht auf der Stelle erstarren. Ihre angespannten Emotionen explodierten fast von der Schönheit, die sich vor ihr ausbreitete.
Nur eine einzige Sache konnte sie dazu bringen, ihre Augen abzuwenden und wieder zur Realität zurückzukehren.
Sie war nicht allein.
Ein junger, dunkelhaariger Mann saß mit dem Rücken zu ihr dem riesigen Fenster zugewandt. Seine Aufmerksamkeit war auf seinen Computer gerichtet, während er auf einem Keyboard herumtippte, ohne sie überhaupt wahrzunehmen.
„Die Fracht ist entladen!“, rief eine entfernte Stimme hinter ihr. Jemand kam auf sie zu. „Der Kapitän will, dass das Schiff zum Start bereit ist, sobald er zurückkommt!“
Ihr Magen zog sich zusammen und ein Tropfen Schweiß rann an ihrer Wirbelsäule herab. Langsam zog sie sich von der Tür zurück und versteckte sich dann hinter dem Bedienungspult, dem einzigen Ort, wo sie sich verstecken konnte. Unglücklicherweise war sie nur teilweise verdeckt. Der sich nähernde Mann würde sie möglicherweise übersehen, wenn er den Raum betrat, doch falls sich der andere Mann, der am Computer saß, umdrehen sollte, würde der sie sofort entdecken. Sie beobachtete ihn angestrengt, ohne zu atmen.
Mist. Mist. Mist.
Nachdem sie sich noch einmal umsah, wurde sie plötzlich von einer beängstigenden Erkenntnis erfasst und ihre Kehle wurde trocken. Sie schluckte schwer.
Der Kontrollraum!
Das Herz des Schiffes! Ein Raum, der sich schon bald mit Leuten füllen würde, die ihre Stationen einnahmen. Und dieses Bedienungspult, hinter dem sie nun hockte, wenn man dessen Position betrachtete, musste zweifelsohne dem Kapitän gehören!
Panikartig suchte sie nach einem Ausweg. Es gab keine anderen Türen. Es gab nichts anderes, wohinter oder worunter sie sich verstecken könnte.
Das Pult, hinter dem sie hockte, war nur knapp einen Meter von der hinteren Wand entfernt, die nun ihre Aufmerksam auf sich zog. Sie hatte das Gefühl, dass dort etwas war. Etwas, was sie nicht sehen konnte.
Dann sah sie es aus ihrem Augenwinkel heraus – ein kleiner Riegel in der Nähe des Bodens, nicht zu weit von ihr entfernt.
Der Mann betrat den Raum. „Hast du mich gehört?“, fragte er den anderen Mann. „Rufe den Rest der Besatzung zu ihren Stationen. Wir werden von hier verschwinden, sobald der Kapitän wieder zurück an Bord ist.“
„Ja, ich habe dich gehört.“
Analia rutschte außer Sichtweite, als der Mann weiter in den Raum hineinkam, um sich an den unbenutzten Computer neben seinem Kollegen zu setzen, wobei er ihr den Rücken zuwandte.
Sie griff nach dem Riegel und öffnete ihn vorsichtig. Es machte ein leises klickendes Geräusch. Ihr Atem stockte, als sie das hörte. Sie blickte zu beiden Männern zurück und war erleichtert, dass sie beide das Geräusch wohl nicht gehört hatten.
Sie zog sanft an der Luke und erwartete schon, dass die winzige Tür womöglich vor lauter Nichtgebrauch quietschen würde, doch stattdessen ließ sie sich öffnen, ohne ein Geräusch zu verursachen und enthüllte eine kleine Öffnung, die gerade groß genug war, dass sie sich hindurchzwängen konnte.
Sie schob sich hindurch und zog dann die Luke hinter sich zu.
Klick.
Sie knurrte beinahe, als sie erneut das Geräusch hörte, was dieses Mal noch lauter geklungen hatte.
Nach einem Moment haarsträubender Stille ließ sie endlich den Atem, den sie unbewusst angehalten hatte, aus ihrer Lunge entweichen und sie betrachtete ihre Umgebung etwas genauer. Es war ein sehr kleiner und enger Raum, scheinbar für die Wartung des Schiffes gedacht. Kabel und Schläuche in verschiedenen Größen verliefen an der einen Seite, nur von einer schwachen Lichterkette beleuchtet. Der Raum war gerade mal groß genug, dass sie sich mit angezogenen Knien hinlegen konnte, was in diesem Augenblick furchtbar verlockend erschien. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Ihr Herz schlug vor lauter Adrenalin noch immer zu schnell.
Sie machte es sich so bequem, wie es ihr möglich war, wobei sie gegen die Erschöpfung ankämpfte, die sie zu überwältigen drohte. Hier und jetzt einzuschlafen wäre keine gute Idee. Sobald sie sich in Sicherheit fühlte, würde sie diesem Drang nachgeben, aber noch nicht jetzt. Das Schiff war immer noch angedockt und es konnte immer noch so viel schiefgehen.
Sie versuchte zu lauschen, was außerhalb ihres winzigen Verstecks vor sich ging. Allem Anschein nach nichts. Sie stellte sich vor, wie die beiden Männer auf ihren Computern herumklickten.
Helle und dunkle Punkte fingen an, ihren Blick zu beeinträchtigen, was ihr andeutete, dass sie den Kampf gegen ihre überwältigende Müdigkeit, die auf sie niederpresste, verlieren würde. Sie hatte sich schon viel zu oft ihrer Erschöpfung hingegeben, um nun zu wissen, dass sie verloren war. Trotzdem bemühte sie sich wach zu bleiben und rieb ihre Augen, um sie aufzuwecken, in einem nutzlosen Versuch sie davon abzuhalten doch noch zuzufallen. Ihr Gehirn pochte mit dem Bedürfnis endlich abzuschalten. Ihr Herzschlag verlangsamte sich erst jetzt. Ihre Atmung ging leichter. Ihr Körper entspannte sich, als es ihren Kopf einlullte.
Bleib wach.
Verschwommener Blick.
Das letzte, was sie hörte, war die Stimme eines Mannes, der soeben erst in den Kontrollraum gekommen war. Sie konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, doch das tiefe maskuline Timbre schien sie irgendwie zu beruhigen. Sie ließ es über sich hinwegrollen, eine vibrierende Energie, die sie wie einen Sicherheitsumhang einhüllte.
Oder war es doch nur ihre Erschöpfung, die sie in die Irre führte?
Unabhängig davon konnte sie die Energie, die sie – selbst in ihrem winzigen Versteck – von ihm spürte, nicht verneinen.
Seine donnernde Stimme ertönte erneut. Es war ihr unmöglich, in ihrem müden Kopf seinen Worten irgendeinen Sinn zu verleihen.
Sie schloss ihren Augen und ihr Bewusstsein verfiel der Dunkelheit.